Daniel Göttin


Daniel Göttin im Gespräch mit Patricia Hug


(PH) Daniel Göttin, du bist seit über 25 Jahren auf der ganzen Welt mit deinen Raumkonzepten tätig. Was unterscheidet sich beim Jahresprojekt 2017 für das Kunsthaus Baselland von deinen anderen Aufträgen im öffentlichen Raum? Was war dein erster Gedanke, als du die Einladung zur Ausführung bekommen hast, ein Werk zu zeigen, welches ein ganzes Jahr im Aussenraum Basel präsent ist?


(DG) Die Einladung für das Jahresprojekt hat mich überrascht und sehr gefreut. Ich kannte das Projekt und die Ausführungen der vorherigen Jahre. Mein erster Gedanke war, eine Wandmalerei zu konzipieren. Es lag auf der Hand, da viele meiner Arbeiten im Aussenraum raumbezogene Installationen, Objekte oder Wandmalereien sind. Der Schwerpunkt für dieses spezielle Projekt hat sich dann aber mehr auf die Fotografie verschoben, die ich bis jetzt allerdings eher als Dokumentation meiner Arbeiten verwendete. Die Wahl des Mediums machte ich abhängig von den Voraussetzungen und den Bedingungen des Aussenprojekts. Wäre es das letzte Projekt vor dem Umzug des Kunsthauses auf den Dreispitz geworden, hätte ich eine Wandarbeit direkt für die Fassadenwand konzipiert und sie auch auf deren Rundfenster bezogen. Da der Umzug aber noch nicht unmittelbar ansteht, habe ich mich auf einen Fotodruck für das Banner konzentriert.

Ich erinnerte mich an eine Fotoserie, welche ich anlässlich eines längeren Atelieraufenthalts in New York gemacht habe, auf einem meiner Spaziergänge. Es waren Schnappschüsse von Baustellen mit grossen, rohen Stahlkonstruktionen. Eine dieser Fotografien hat sehr konkret etwas mit der Situation der Stirnwand des Kunsthaus Baselland zu tun. Die von mir ausgewählte Fotografie ist eine Projektionsfläche, die mir für die Situation strukturell, formell und inhaltlich geeignet scheint.

Der Unterschied zu meinen anderen Arbeiten – vor allem den Wandmalereien, die direkt vor Ort mit Farbe auf einer realen Wand ausgeführt werden – besteht in der Projektion einer Fotografie auf einen textilen Grund, der dann vor die Wand selbst montiert wird. Das Banner wird als vorfabriziertes Element mit dem gedruckten Motiv aufgehängt, also nicht direkt vor Ort von Hand gefertigt. Es ist quasi als ein Import von einem anderen Ort zu lesen. Das Motiv für das Banner ist ebenfalls von einem anderen Ort importiert. Es zeigt den Ausschnitt einer nicht genau definierten Baustelle im Rohbauzustand, wo schwere Stahlträger in die Höhe ragen und in verschiedene Richtungen laufen. Deren Aufbau und Konstruktionsprinzip scheint nur teilweise nachvollziehbar zu sein. Sie stecken einen imaginären Luftraum auf der Fläche ab, mit dem Himmel im Hintergrund. Das Bild ist in das Format der Fassade integriert und lässt diese als Gebäude durchlässig erscheinen, obwohl es sich auch um eine architektonische Konstruktion handelt. Das Dach scheint ebenso partiell in diese visuelle Situation integriert und von der Konstruktion gehalten zu sein, und das gesamte Bild verweist auf den inneren Aufbau des Kunsthauses in verzerrter Art und Weise.

Die Dauer des Jahresaussenprojekts ermöglicht es Passanten, die Situation über einen längeren Zeitraum wiederholt und auch genauer zu betrachten. Das ist etwas sehr Reizvolles. Das Banner ist an der viel befahrenen Strasse sehr präsent und bietet eine Möglichkeit, Kunst direkt im Alltag und ohne kunsttheoretische Vorgaben wahrzunehmen. Er wird ein Jahr lang fester Bestandteil der Umgebung und des täglichen Lebens. Das ist sehr erfreulich.


(PH) Wie vertraut bist du mit Fotografie? Kann man sagen, dass du nach all den Jahren deiner Tätigkeit hier im Kunsthaus Baselland etwas Neuartiges zeigst? Ich fand es schön zu hören, dass du während deiner zahlreichen Auslandsaufenthalte stets deine Fotokamera dabeihattest beziehungsweise -hast. Auch das gezeigte Bild ist auf diese Weise entstanden, gibt aber keinen konkreten Hinweis auf den Ort der Aufnahme, oder habe ich da etwas übersehen? Wie wichtig ist dir der Aufnahmeort, an dem die Fotografie entstanden ist?


(DG) Diese Fotografie ist die erste, die ich im öffentlichen Kontext und so exponiert zeige. Ich habe kleinere Ausstellungen gemacht, bei denen Fotografien Bestandteil waren. Diese haben sich im Zusammenhang mit Aufenthalten im Ausland ergeben, wo ich mithilfe der Fotografie serielle Arbeiten realisierte. Diese waren allerdings nicht im Voraus geplant und haben sich erst am jeweiligen Ort ergeben. Ich fand dies sehr interessant, da ich mit dieser Vorgehensweise die momentane Situation erfassen und charakteristische Qualitäten der fremden Umgebung spontan thematisieren konnte.

Die Fotografien verweisen manchmal auf bestimmte Aspekte der jeweiligen Kultur oder Gegend, sollten aber nicht anhand deren Herkunft gesehen oder gelesen werden. Die Fotografie ist immer eine Abbildung und aus dem realen Kontext genommen, hat also keinen eigenen Ort in der Wirklichkeit. Daher bevorzuge ich, die Fotografie als Abstraktion einer Vorstellung und ohne örtliche Identität oder Zuweisung auszustellen. Die Wahrnehmung handelt vom Bild selbst, nicht von der Erinnerung an einen Ort.


(PH) Deine Arbeit besteht im Allgemeinen aus Linien, meist in orthogonaler Form angeordnet, die du anhand des dir zur Verfügung gestellten Raumes konzipierst. Kannst du mehr zu deinem Vorgehen erzählen, wie du auf das Ergebnis kommst, welche Hilfsmittel dir zur Verfügung stehen, was für eine Bedeutung das Material hat und wie du die Arbeit vor Ort ausführst beziehungsweise ausführen lässt?


(DG) Der reale Raum ist die interessante Voraussetzung und Konstante. Er existiert normalerweise schon und ist die wesentliche Gegebenheit, ein Fakt, der am Anfang einer Konzeption steht. Es ist wichtig, diese Situation und die damit verbundenen Bedingungen zu verstehen, um raumbezogen und installativ arbeiten zu können. Mein Vorgehen bezieht möglichst viele architektonische, funktionale und materielle Faktoren mit ein, aber auch gesellschaftliche, regeltechnische und finanzielle, um eine geeignete künstlerische Arbeit zu realisieren. Diese Informationen ermöglichen mir, eine Arbeit in Bezug auf Inhalt, Dimension, Struktur, Form, Material und Präsenz zu entwickeln.

Das Konzept für eine raumbezogene Arbeit hängt davon ab, welche Informationen ich zu einem Ausstellungsraum erhalte. Für einige Ausstellungen, Interventionen oder Installationen kann ich am Ort selbst recherchieren, andere finden an einem Ort im Ausland statt, an dem ich noch nie war. Aufgrund der mir zugesandten Informationen muss ich eine Möglichkeit finden, eine schlüssige Arbeit für den Ort zu konzipieren. Dies kann eine Herausforderung sein, weil ich gewisse Unklarheiten einbeziehen und daher das Konzept eher offen anlegen muss. Wenn ich die Arbeit selbst ausführe, kann ich relativ flexibel agieren. Falls die Arbeit aber von Drittpersonen umgesetzt wird, sind detailliertere Angaben notwendig, um mögliche Missverständnisse bereits im Voraus auszuschliessen. Diese Arbeiten werden dann nach meinen Vorgaben umgesetzt und lassen wenig Improvisation zu.


(PH) Was für eine Bedeutung haben dabei der Raum und seine Architektur, und auf welche Weise und wie stark möchtest du in die Gegebenheiten eingreifen und sie verändern?


(DG) Raum und Architektur sind für mich formulierte Wirklichkeit, gebaute Realitäten, die ich so akzeptiere, wie sie sind. Sie werden für verschiedene Zwecke entwickelt und erhalten in der Funktion ihre Gültigkeit. Jede örtliche Situation bietet verschiedene Voraussetzungen und verlangt ein entsprechendes künstlerisches Vokabular. Diese Ausgangslage ermöglicht mir, den Ort selbst mit seinen Bedingungen zu untersuchen, zu thematisieren und mit meiner Intervention neu zu definieren. Dabei belasse ich den Raum so, wie er ist, bringe also keine raumverändernden An-, Um-, oder Zusatzbauten an, um ihn meinem künstlerischen Konzept anzupassen oder ihn auszublenden, wie es zum Beispiel für Videoinstallation oft der Fall ist. Der Ort bleibt als Realraum zentraler Bestandteil der Situation und verbindet sich so mit meiner künstlerischen Arbeit zu einer neuen selbstverständlichen und egalitären Einheit. Diese Situation kann ungewohnte Aspekte des bereits Vorhandenen neu artikulieren und so die Wahrnehmung und die Orientierung am Ort verstärken. Intervention und Ort bedingen einander gegenseitig und werden so simultan erlebbar.


(PH) Wie streng kannst du deine Konzeptionen einhalten? Du hast mir erzählt, dass du einmal dein Konzept kurzerhand aufgrund eines falschen Raumplans überarbeiten musstest. Manch Künstler wäre vielleicht ratlos, aber du meintest, dir gefällt das. Muss man bei der Art deines Schaffens solche Vorkommnisse vorausplanen respektive vorausplanen können oder gehört auch eine jahrelange Erfahrung zu deiner Haltung?


(DG) Je nach Voraussetzungen und falls möglich berücksichtige ich schon zu Beginn der Konzeption eventuelle Schwierigkeiten. Aufgrund erhaltener Unterlagen wie Pläne, Skizzen oder Fotos oder auch nach eigener Vermessung bei einer Besichtigung zeichne ich normalerweise einen massstäblichen Plan. Wenn nötig, baue ich auch ein Arbeitsmodell. So lerne ich den Ort relativ gut kennen und kann ihn auch weitgehend imaginieren. Dabei fallen mir manchmal schwierige Elemente oder Details auf, die Einfluss auf die künstlerische Arbeit haben können. Also versuche ich, das Konzept auf diese Gegebenheiten hin zu überprüfen und diese, wenn nötig, zu berücksichtigen. Das gelingt nicht immer, aber ich lege in solch einem Fall das Konzept offener an als bei klaren Gegebenheiten und überlege, ob und wie weit ich bei der Ausführung am Ort selbst improvisieren kann. Für mich gehört diese Arbeitsweise zu meiner künstlerischen Arbeit und ist selbstverständlich. Es ist herausfordernd, eine für den Ort schlüssige und stimmige Installation zu kreieren, ohne bereits alle Komponenten bis ins Detail zu kennen. Dabei ist es oft spannender, ein Konzept für einen schwierigen, ungewöhnlichen oder verwinkelten Raum zu erarbeiten als für einen White Cube. Die Erfahrung mit vielen verschiedenen Projekten und Ausführungen im In- und Ausland über die vielen Jahre ist da schon hilfreich.


(PH) Wenn man auf diese vielen Projekte zurückschaut, die du ausgeführt hast und die aufgrund deiner zahlreichen Reisen unterschiedliche kulturelle Ausführungsorte, Bedingungen und Geschichten mit sich bringen, was war die aufwendigste, was die schwierigste, was die vielleicht humorvollste und was die schönste Arbeit?


(DG) Einige der ersten Projekte der frühen 90er-Jahre entstanden bei längeren Aufenthalten im Ausland. Da ich bei solchen Aufenthalten ohne konkrete Pläne anreise, kann ich mich ganz auf die neue Umgebung und die kulturellen Unterschiede einlassen. Mit der Zeit entstehen dann Arbeiten aus dem Kontext heraus.

1990 hielt ich mich als Artist-in-Residence für sechs Monate in Fremantle, Westaustralien, auf. Ich verbrachte eine wunderbare Zeit dort, lernte sehr viele australische Künstlerinnen und Künstler kennen, mit denen ich zusammen teilweise heute noch Projekte realisiere. Da ich regelmässig die Tageszeitung The West Australian las, beschloss ich, die vielen Zeitungsseiten zu einer raumfüllenden Bodenarbeit zu verarbeiten. Die Zeitungsbögen habe ich in repetitiver Art einzeln zu Zylindern geformt und auf dem regelmässig gerasterten Atelierboden platziert. Nach etwa sechs Wochen beinahe meditativer Arbeit stand ein Meer von Zylindern im Raum, leicht und luftig, was einige Besucher reizte hineinzuspringen. Ich konnte sie aber – mit etwas Mühe zwar – davon abhalten. Diese Reaktion war interessant, da die Installation selbst im Fokus stand und wahrgenommen wurde und nicht der zeitliche Arbeitsaufwand. Auch schien die Hemmschwelle zur Zerstörung der Arbeit für die Besucher aufgrund des „wertlosen“ Zeitungspapiers eher niedrig zu sein.


Anlässlich eines weiteren Auslandsaufenthalts als Artist-in-Residence bei Donald Judds Chinati Foundation in Marfa, Texas, im Jahr 1993 stand mir als Atelier der schöne Ausstellungsraum „Locker Plant“ zur Verfügung. Dort verwendete ich Materialien, die in der nahen Umgebung auffindbar waren. So installierte ich eine weitere Bodenarbeit, die aus Versandkartons vom Post Office, transparentem Klebeband vom kleinen Hardware-Store „Wynn’s“ und Schottersteinen von den Gleisen der vorbeifahrenden Southern Pacific Railroad bestand. Allerdings wurde mir von der Stadt offiziell nur erlaubt, die Steine neben den Gleisen zu verwenden und diese erst abends nach 17 Uhr zu sammeln. Dies tat ich dann mehrere Tage lang mithilfe von Kartonschachteln und einem Mountainbike, bis mich zwei Kollegen mit einem Auto unterstützten, da das Steinesammeln etwas anstrengend wurde und nie zu enden schien. Diese Installation kam meiner künstlerischen Vorstellung von raumbezogener Installation recht nahe. Auch die überraschende Möglichkeit, eine ungewöhnliche Kombination von industriellen Materialien aus der Umgebung einsetzen zu können, die normalerweise für andere Zwecke bestimmt sind, fand ich aufregend. Das Ergebnis war schön und überzeugte in verschiedener Hinsicht.


Eine der vielleicht aufwendigsten Arbeiten realisierte ich 1994 in Frauenfeld in der Ostschweiz, als ich das Sommeratelier im Shed-Eisenwerk erhielt. Ein mit verschiebbaren Wandstücken abgesteckter Raum mitten in einer ehemaligen, etwa 500 Quadratmeter grossen Fabrikhalle wurde bisher als Atelier genutzt. Ich fand die Fabrikhalle selbst fantastisch und schlug vor, alle Wandstücke zu entfernen, die gesamte Fabrik zu räumen und den Boden zu wischen, um eine einzige grosse Arbeit in der gesamten Halle zu realisieren. Ich streifte drei geschlossene Seiten der Fabrikwände horizontal und in regelmässigem Abstand von oben bis unten mit schwarzem Klebeband. Die vierte Seite bearbeitete ich nicht, da sich dort Durchgänge und das Café befanden. In der Mitte der Fabrik befanden sich zwei Reihen à drei Stahlstützen. Diese umwickelte ich ebenfalls auf drei Seiten mit transparentem Klebeband, auch horizontal und in regelmässigem Abstand, jedoch mit der offenen Seite zur Wand gegenüber des Cafés. So entstanden zwei gegeneinandergestellte U-Formen. Die Dimensionen waren enorm, also bat ich um einen Assistenten, der aber nie kam. Also fing ich an und klebte die ersten Streifen, stellte allerdings bald fest, wie aufwendig diese Arbeit werden würde. Zum Glück hatte ich ja sechs Wochen Zeit, weshalb ich einfach weiterklebte, bis die drei Wände schwarz gestreift waren. Der spannendste Teil war dann die Umwicklung der Stahlstützen mit transparentem Klebeband. Auf dem Rollgerüst stehend, musste ich einerseits das Klebeband permanent richtig halten, gleichzeitig das Rollgerüst den Trägern entlang verschieben und in die entsprechende Richtung rollen, was mir einiges an Akrobatik abverlangte. Zu meiner Überraschung funktionierte das tatsächlich bis zuletzt, auch wenn ich an meine physischen Grenzen kam. In der Mitte stand an der Eröffnung ein grosser, transparenter, lichtfassender luftiger Quader, während an den Wänden die regelmässigen schwarzen Klebebandstreifen erschienen, als wären sie schon immer dort gewesen, sodass mich in der Ausstellung Besucher fragten: „Wo ist die Kunst?“


2015 fand eine gemeinsame Ausstellung von alternativen Kunsträumen aus Basel unter dem Sammelnamen ∑ in der Villa Renata statt, wo jeder Ausstellungsteilnehmer in Eigenregie einen Raum bespielen konnte. Der Kunstraum Hebel_121 meiner Partnerin Gerda Maise hat meinem Künstlerfreund Stephen Bambury aus Neuseeland und mir die Gelegenheit gegeben, während einer Woche einen Raum spontan einzurichten. Wir transportierten gut erhaltenes Restmaterial von früheren Ausstellungen und Installationen im Hebel_121 in die Villa Renata und fingen an, damit zu improvisieren: Wir stapelten, türmten, legten, hängten, lehnten Bretter, Latten, Teppich, Styropor und anderes im Raum. Dazu platzierten wir gemeinsam viele kleine Collagen, Papierarbeiten, kleine Objekte und andere Kuriositäten aus Stephens und meinen nebenbei entstandenen Abfallarbeiten. Wir lebten und erarbeiteten zusammen während einer Woche das Kunstprojekt Upfall. Das gesamte Projekt war ein humorvoller direkter Austausch zwischen realen Künstlerinnen und Künstlern aus nahen und fernen Ländern, mit realer Kunst in realen Räumen und mit realen Besucherinnen und Besuchern.


(PH) Wie stark haben dich somit deine Ausbildung sowie deine Auslandsstudienaufenthalte in deinen minimalistischen, dadaistischen und konstruktivistischen Arbeiten beeinflusst?


(DG) Ich war bereits vor meiner Kunstausbildung künstlerisch tätig. Mein Interesse galt damals den konstruktivistischen und konkreten Strömungen, aber bald auch Dada, und mehr noch Kurt Schwitters mit seinem Merz-Universum. Etwas später haben mich die Arbeiten von Donald Judd interessiert und auch beeinflusst. Die Ausbildung ermöglichte mir, mit unterschiedlichen Materialien zu experimentieren und meine Kenntnis von Kunst und Kunstgeschichte zu erweitern, aber auch viele Leute im Umfeld der Kunst kennenzulernen. Bis heute faszinieren mich Merz, Minimal Art, Konkrete Kunst, konzeptionelle Kunst, Arte Povera, jedoch auch historische und neuere Tendenzen. Der Einfluss dieser Strömungen auf meine Arbeit war bei meinen Auslandsaufenthalten immer vorhanden. Mit den Jahren habe ich wohl manche Aspekte davon verinnerlicht und auch verwendet, andere aus den Augen verloren. Als elementare Teile meiner künstlerischen Sprache sind sie auch heute noch vorhanden. Allerdings sehe ich heute meine künstlerische Tätigkeit eher zwischen den einzelnen Strömungen, mit gelegentlichen diskreten Verweisen auf diese.


(PH) Zu deinem Schaffen gehören neben orthogonalen Linien auch Netzarbeiten. Wie haben sich diese „Netze“ herauskristallisiert? Sind sie als Folge einer Auflockerung eines eher starren Rasters anzusehen, oder wie viel Berechnung steckt dahinter?


(DG) Die Netzarbeiten entstanden aufgrund verschiedener Umstände. Die erste Netzarbeit, NETWORK 1, entstand im Jahr 2000, als ich eine relativ grosse Klebebandarbeit für eine Ausstellung in Holland ausführen sollte. Während der Planung der Arbeit und vor der Reise wurde mir mitgeteilt, die abgemachten Kosten könnten nicht bezahlt werden. Dies war ärgerlich, und ich entschloss mich, eine Arbeit ohne Planung auszuführen, einzig mit einer ungefähren Skizze. Zusammen mit einem Künstlerfreund reiste ich nach Amsterdam, wo wir innerhalb kurzer Zeit die gesamte Arbeit ausführten. Die Entscheidung so zu handeln hatte mir überraschend neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, die ich bis heute anwenden kann. Mit dieser Erfahrung konnte ich auch an mir noch nicht bekannten Orten Arbeiten direkt ausführen. Da ich diese Netzwerke nur aufgrund einer Skizze und ohne Berechnung selbst und relativ frei Schritt für Schritt anbringe, sehe ich das fertige Werk erst nach der Ausführung. In diesem Zusammenhang fand ich einen passenden Text in den „Notizen“ von Ludwig Hohl, der mich faszinierte.


„Das menschliche Arbeiten, das weltverändernde Wirken, vollzieht sich in drei Stufen. Diese sind: Die grosse Idee – die (der grossen Idee entsprechenden) Einzelvorstellungen; anders gesagt: die Applizierung der grossen Idee, ihre Auflösung in kleine Ideen, Ideen des Einzelnen; – die (den Einzelvorstellungen entsprechenden) Einzelausführungen. Kurz gesagt: Die grosse Idee, die kleinen Ideen, die kleinen Taten. Und leider bleiben die meisten Menschen stets auf der ersten der drei Stufen stehen; bleiben stehen bei der grossen Idee oder ihr gegenüber auf einer Art Aussichtspunkt; die Sache bekommt dann die Farbe und den Rang des ‹Idealismus›, der Phantasterei ...

– Diese drei Stufen sollen das Ganze des menschlichen Handelns bilden? Sie bilden das Ganze, sie sind alles. – Wo bleibt denn die grosse Tat?

Folgt dann die grosse Tat etwa von selber? Nein. Sie ist schon geschehen.

Noch einmal: Die grosse Idee, die kleinen Ideen, die kleinen Taten, und keine vierte Stufe, nichts anderes mehr.

(Du habest die grosse Idee, dein Leben zu ändern [und haben nicht die meisten sie?]; so lass die grosse Idee zerfallen in die ihr entsprechenden Teil-Auffassungen [wie viele gelangen so weit?]; tue diese einzelnen Dinge [langsam, im Masse deiner Möglichkeiten, deiner Kräfte nur, eins nach dem andern]: Dein Leben ist geändert.»1


((1 Ludwig Hohl, Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, Frankfurt am Main 1984, S. 23f.))


Dieser Text ist selbsterklärend, und veranschaulicht den Vorgang bei der Ausführung einer meiner Netzarbeiten.


(PH) Die Klebearbeiten werden nach Ende einer Ausstellung abgebaut und verlieren den Anspruch eines Kunstwerks. Stört dich dieser Faktor?


(DG) Nein, dieser Faktor ist Teil des Konzepts. Das Klebeband ist vor der Ausstellung sogenanntes Halbfabrikat, massenweise hergestelltes, anonymes Industriematerial, dessen genaue Bestimmung noch nicht definiert ist, also unterschiedlich verwendet werden kann. Es wird normalerweise als Hilfsmittel für andere Dinge eingesetzt und hat noch keinen eigenen Wert. Ich benutze das Klebeband in seiner ganzen Funktion – Klebeband klebt eben – und setze es als eigenständiges Material ein. Die direkte Anwendung und Verwandlung von der Rolle zur Wand verleiht ihm seine eigene Qualität, die während der Ausstellung sichtbar und gültig wird. In dieser kurzen Zeit existiert das eingesetzte Klebeband zusammen mit dem Träger als Kunstwerk. Nach der Ausstellung wird es abgebaut und verwandelt sich in ein kugelförmiges Objekt, ein Relikt dieser Ausstellung. Je nach Möglichkeit sammle ich einige dieser Relikte. Der weitgehende Entzug dieser Arbeiten vom kommerziellen Markt als nicht handelbares, temporär existierendes Kunstwerk nur an diesem bestimmten Ort, ist ein weiterer Aspekt, der mir wichtig ist und auch gefällt.


(PH) Wie wichtig ist es dir, den Betrachter in deine Arbeit miteinzubeziehen, und wie viel Humor spielt in deinen Arbeiten mit?


(DG) In einer raumgreifenden Installation sind die Besucher von Anfang an miteinbezogen. Die Installation umgibt sie oft auf mehreren Seiten, ist selten auf Frontalität wie bei Bildern angelegt und einer Gesamtübersicht entzogen. Dies verstärkt die Dreidimensionalität des Raumes und fordert die Besucher zur Bewegung heraus, da nie alles gleichzeitig sichtbar ist und wahrgenommen werden kann. Diese Tatsache besteht an jedem Ort und ist an sich selbstverständlich, wird aber oft vernachlässigt. Die Erfahrung von Raum kann mit der installativen Arbeit so verstärkt werden, da der Blick der Menschen keine 360 Grad umfasst und immer in eine bestimmte Richtung weist. Imagination ist also Teil der Betrachtung.

Meine Arbeiten sind meist aus wenigen klaren geometrischen Teilen aufgebaut, die einfach angelegt und voneinander abgegrenzt sind, was die Gesamterscheinung der Arbeiten vertraut und diese leicht lesbar macht. Sie handeln von Bekanntem, das nachvollziehbar ist und ohne Geheimnisse auskommen kann. Geometrie ist eine universelle Sprache und begleitet uns überall im Alltag. Sie ist objektiviertes System, für alle Menschen zugänglich und entzifferbar. Ihre Bedeutung scheint als blinder Fleck im heutigen Überfluss der Dinge etwas verloren gegangen zu sein. Mein Interesse gilt daher einer nachvollziehbaren Klarheit in den Dingen ohne Spektakel, dafür selbstverständlich und gültig wie etwas anderes. Dies ist eher der ernstere Aspekt meiner Arbeiten. Gleichzeitig spielen die Arbeiten auch mit der Unterwanderung von Erwartungen. So einfach sie sind, können sie doch Kunst sein, erfüllen aber oft Vorstellungen nicht, was Kunst sein soll. Der kreative Moment ist oft minimiert oder sogar ausgeklammert, was manchmal zu Enttäuschungen bei Betrachtern führen kann, die einzigartige Kreativität oder Originalität erwarten. Für mich ist diese Diskrepanz eher amüsant, da normalerweise vorgefasste Meinungen und Ahnungen von Kunst bestätigt werden wollen, die von den Betrachtern jedoch nicht artikuliert werden. Wie viele andere Künstler und Künstlerinnen biete ich mit meinen Arbeiten ein sichtbares Angebot und eine Möglichkeit, was Kunst sein kann, ohne gewünschte Rückbestätigungen zu berücksichtigen. Daher entsteht selten Kongruenz zwischen Werk und Betrachter, was der einfache und zugängliche Aufbau meiner Arbeiten aber offensichtlich bietet. Der Humor nistet sich diskret und fast unmerklich in meinen Arbeiten ein; in der Wahl vom Material, im Widerspruch von Material und Wert, in der Anwendung an seltsamen oder sogenannten Un-Orten, in der gleichzeitigen Ernsthaftigkeit und Absurdität der Werke und deren Existenz.


(PH) Zum Schluss möchte ich nochmals auf das Jahresaussenprojekt zurückkommen und die Betonbänke vor dem Kunsthaus Baselland ansprechen. Nur wer sie kennt oder ein scharfes Auge hat, kann erkennen, dass du sie einem deiner Systeme unterworfen hast. Was war deine Ausgangslage? Die exakte Linie der Bänke macht schliesslich kurz vor Ende einen Knick. Was hältst du von solchen „irritierenden Abweichungen“?


(DG) Die Betonbänke vor dem Kunsthaus fielen mir schon vor einiger Zeit auf. Die Art, wie sie in einem unartikulierten Bogen das Terrain abgrenzen, fand ich unentschieden. Die Situation mit der etwas unbestimmten Ausrichtung der Bänke schien mir zu wenig strukturiert und irgendwo im Niemandsland zu liegen, also keinen klaren Ort zu haben. Nun bot sich mir anlässlich des Jahresaussenprojekts die Gelegenheit, diese Situation zu ändern. Ich verteilte die zwölf Bänke in regelmässigem Abstand und richtete sie neu in einer Fluchtlinie aus, wobei ich jede dritte Bank um eine Bankbreite nach innen zum Kunsthaus hin verschob, woraus mehr Volumen und Struktur resultierte. Da die Funktion der Parzellenabgrenzung gewährleistet bleiben musste, war es sinnvoll, mit einem Knick bei der achten Bank die Fluchtlinie zu brechen. So konnte der Endpunkt bei der Schranke unter grösstmöglicher Nutzung der Platzfläche erreicht werden. Der Knick bezeichnet den auffälligsten Moment in der Bankreihe und weist auf die veränderte Situation hin. Diese kennzeichnet einen diskreten, aber bewussten künstlerischen Eingriff an der Schwelle von Kunst und Alltag, die auch als solches wahrgenommen und weiterhin – in leicht veränderter Struktur – benutzt werden kann.


(PH) Was möchtest du in Zukunft gerne einmal ausführen?


(DG) Ein konkretes Projekt schwebt mir im Moment nicht vor, aber interessant ist es sicher, Kunst immer wieder auch ausserhalb des gebotenen Kunstkontexts an unüblichen Orten der menschlichen Zivilisation zu realisieren. Seit längerer Zeit verstehe ich Kunst als etwas, was ich jederzeit und an jedem Ort realisieren kann. Jede Situation ist für Kunst potenziell zugänglich. Kunst kann auch heute noch – relativ – frei und eigenständig überall ausgeführt werden. Ich habe an vielen verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Bedingungen ausgestellt, was wohl auch in Zukunft so sein wird, denn Kunst und Leben gehören bei mir zusammen.


Das Gespräch wurde an mehreren Tagen im August 2017 in Basel geführt.

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